„Kinder, schafft Neues“ (Richard Wagner)
von Ulrich Schmidt
Ja wie denn? Seine Texte sind unantastbar, seine Musik auch. In der Regie sind ja schon sämtliche „Ismen“ dekliniert oder definiert. Und je nach Standpunkt war’s das dann. Und selbst Bayreuth hat den Orchestergraben zwischen Publikum und Bühne. Wie also soll, kann man Neues schaffen? Hier hilft der Blick in die Provinz. Nein, nicht nach Bayreuth. Nach Minden! Hier hat man Neues geschaffen.
Und zwar so: Seit 1912 besteht in Minden der Richard Wagner Verband, damals eine Vereinigung der Freundinnen Richard Wagners, gegründet zur Unterstützung aller Möglichkeiten, Verständnis für Richard Wagner und sein Werk zu fördern. Seit 2002 wird diese Förderung in ganz besonderer Weise betrieben: Gemeinsam mit der Nordwestdeutschen Philharmonie, dem Stadttheater Minden und unglaublich vielen Sponsoren bemüht sich der Wagner Verband Minden um Aufführungen der Opern. Mit Erfolg. Angefangen mit „Der fliegende Holländer“ im Jahr 2002 sind seither fast alle Werke Wagners, die auch in Bayreuth gezeigt werden, aufgeführt worden. Mit gebührenden Zeitabständen, versteht sich, denn das Mindener Theater ist zwar Gastspieltheater, leistet sich mittlerweile aber auch Eigenproduktionen. Nun aber gleich Richard Wagners Opern, die selbst im benachbarten Bielefeld eher selten, und der Ring des Nibelungen schon gar nicht, gespielt werden – den Aufwand kann man höchstens alle zwei, drei Jahre stemmen. Vor allem, wenn man im Vergleich z.B. zur Bühne in Bayreuth eine wirklich kleine Bühne – eher eine Nussschale – zur Verfügung hat mit minimalem Orchestergraben.
Wagnerspezialist Frank Beermann, als Dirigent seit vielen Jahren der NWD-Philharmonie verbunden, sah das als Herausforderung. Die Lösung, die gemeinsam mit dem technischen Leiter des Mindener Theaters gefunden wurde, ging denn auch recht schnell in die Theaterwelt als „Mindener Modell“ ein. Das Orchester wird auf der Hinterbühne hinter einem Gazevorhang platziert. Die reine Bühnenfläche in Minden beträgt etwa 9 x 15 Meter. In Bayreuth z.B. hat der Regisseur eine Bühnenfläche von ca. 22 x 27 Meter, zusätzlich eine Hinterbühne mit einer Tiefe von ca. 13 Meter. Nun spielt das Orchester in Bayreuth in einem während der Vorstellung abgedeckten Orchestergraben, was bedeutet, dass die Sängerinnen und Sänger immer „über“ das Orchester singen müssen. Das ist in Minden anders. Den Akteuren steht zusätzlich zur schmalen Bühne noch eine schmalere Vorbühne zur Verfügung. Der Vorteil: Die Zuschauer verstehen die Akteure richtig gut, die Akteure wiederum haben die Musik im Rücken. Frage an den Dirigenten: Wie klappt denn da die Beziehung Bühne – Orchester? „Sehr gut“, antwortet Frank Beermann, „denn natürlich gibt es genug Monitore in den Seiten und im Bühnenrahmen, auf denen meine Einsätze zu sehen sind. Außerdem stellt sich schon nach ganz kurzer Probenzeit ein kammermusikalischer Kontakt her, man versteht sich relativ schnell und gut.“ Kommt dazu, dass Frank Beermann mit den Künstlern eine Woche Textarbeit macht. Wobei es ihm nicht darauf ankommt, eine bestimmte Interpretation vorzugeben. „Ich will den Text vom Wort her denken“.
Der große Vorteil der Produktionen in Minden besteht für Frank Beermann darin, dass die Sängerinnen und Sänger für die gesamte Probenzeit von rund sechs Wochen vor Ort sind. Das „Stagione Prinzip“, wie es in Frankreich oder Italien z. B. praktiziert wird, sieht genau dieses vor. Nach der gemeinsamen Probenphase gibt es eine bestimmte Anzahl von Vorstellungen, dann kann ein neues Stück probiert werden. Der Vorteil besteht darin, dass die Künstler in dieser Phase keine anderen Proben oder gar Abendvorstellungen, also Ablenkungen, haben. Gut. Also die Orchesterprobleme sind gelöst. Und das ist ja schon etwas ziemlich Neues für Wagner-Opern.
Aber wie geht das mit den Künstlern? Und was ist mit den Kostümen und dem Bühnenbild? Zunächst zu den Künstlern. Die Idee, Wagner in Minden zu inszenieren, hatte Jutta Winckler, seit mittlerweile 26 Jahren Vorsitzende des Wagner Verbandes Minden. 2002, zum Neunzigsten des Verbandes wollte sie etwas Neues für Minden. Konzerte, Liederabende, Vorträge – alles schon da gewesen. Da blieb nur noch die Idee einer Inszenierung in Minden. Als Orchester kam nur die NWD-Philharmonie, denn die bespielt Minden im Rahmen der Abo-Konzerte sowieso. Und Frank Beermann, siehe oben, war Feuer und Flamme. Die Künstler: Natürlich sollten es erstklassige Sängerinnen und Sänger sein. Da halfen natürlich Jutta Wincklers gute Kontakte nach Bayreuth. Aber wie stemmt man, pardon Frau, ein solches Projekt finanziell? Das Mindener Theater als Bespieltheater mit kleinen Eigenproduktionen ist für eine Wagner-Produktion finanziell absolut nicht ausgestattet. Also ging Jutta Winckler auf Sponsorensuche. Und war nach vielen Anfragen und Erklärungsversuchen und Umgarnungen sicher, dass sie die Finanzen zusammenbekommt. Und so war es denn auch. Aber Jutta Winckler schwebte nicht nur eine Produktion für Theaterbesucher vor. Nein, sie wollte das Mindener Publikum insgesamt gewinnen. Wagner für alle, nicht nur für die Haute volee. Und, was ihr besonders wichtig war: „Ich wollte, dass auch die Schüler in die Oper gehen. Wann haben die schon mal Gelegenheit, eine Wagner Oper zu sehen?“ Einwand: „Wie soll das denn gehen? Kinder, Jugendliche – fünf Stunden Oper?“ „Indem wir sie mit einbeziehen. Nicht nur durch die Vorbereitung auf den Theaterbesuch. Es gibt ja durchaus kleine Aufgaben hinter der Bühne. Im Holländer braucht‘s ja z.B. die Nebelmaschine. Und der Junge, der sie damals bedient hat (2002), hat in Harvard über Wagner und die Philosophie von Nietzsche promoviert.“ Das als ein Beispiel von vielen.
Aber wie hält man die Künstler bei Laune? Minden hat ja nicht gerade Großstadtflair. Wo bringt man in Minden Künstler unter, die an der Met oder in Bayreuth singen? Das war auch kein Problem. „Im ersten Jahr haben wir die Künstler alle bei uns untergebracht. Da saßen dann zum Frühstück 10 Personen am Tisch und abends saßen immer noch und immer wieder einige dort,“ erzählt Jutta Winckler. In den Folgejahren hat sich das geändert. Die Mindener haben gemerkt, dass das klappt. Und da sind sie offener geworden, haben dann Zimmer oder sogar Appartements angeboten. Ganz überwältigt war Jutta Winckler von den Mindenern, die für den >Einzug der Gäste< im Tannhäuser gebraucht wurden. Regisseur Keith Warner wollte dafür 500 Mindener ganz in Weiß gekleidet filmen, wenn sie in das Theater kommen. Und als der Drehtag kam, welch ein Schreck, keine einzige Person in Weiß am Bühneneingang. Was nun? Da half ein Blick in das Theater-Café. Im und vor dem Café standen 500 weißgekleidete Menschen. „Und wir konnten filmen.“ So gelang es Jutta Winckler und den vielen Helfern im Wagner Verband, z.B. den Tannhäuser in Minden auf die Bühne zu bringen. Und was 2002 begann, wird fortgesetzt mit Die Meistersinger von Nürnberg. Wie heißt es dort im Text: >Verachtet mir die Meister nicht<. In Minden bestimmt nicht.