Der Armenier aus Bayern
von Ulrich Schmidt
Der erste Chefdirigent der NWD-Philharmonie, Rolf Agop, wurde am 11. Juni 1908 in München geboren. Wie in seinen Memoiren nachzulesen, war es damals im Königreich Bayern nicht viel anders als heute, zumindest was die Herkunft betrifft: „Mein Großvater väterlicherseits stammte als Voll-Armenier aus Kutahia in Kleinasien, das heute noch zur Türkei gehört. Er war übrigens reisender Meerschaumhändler und heiratete in Wien eine Ungarin, weshalb mein Vater 1878 als Wiener das Licht der Welt erblickte. Mein Vater heiratete 1906 in München meine Mutter, hatte aber immer noch die osmanische Staatsbürgerschaft. Erst 1915 wurde ich zusammen mit ihm naturalisiert, das heißt vom Türken, der ich ebenso wenig war wie mein Vater, zum Deutschen verwandelt. Der armenische Name Agop ist mir dabei aber geblieben.“
Nach seinem Musikstudium in München arbeitete Agop als Dirigent für Oper und Operette an verschiedenen Theatern im Dritten Reich, zuletzt in Nürnberg, bis er 1943 zum Kriegsdienst eingezogen wurde. In Nürnberg erhielt er auch unmittelbar nach Kriegsende wieder ein Engagement, das er jedoch zugunsten größerer Freiheiten als Chefdirigent der in Bad Pyrmont gegründeten Nordwestdeutschen Philharmonie aufgab. War die Zeit vor der Währungsreform erträglich, änderten sich die Verhältnisse nach dem 20. Juni 1948 schlagartig. Die alte Währung galt nicht mehr, von der neuen – der D-Mark – gab es nicht genug. Überdies wurde alles teurer. Zusätzlich entzog das Bundesland Niedersachsen dem Pyrmonter Orchester jegliche Unterstützung.
Rolf Agop fand jedoch mit Hilfe des Paderborner Oberstadtdirektors Fischer und des Detmolder Regierungspräsidenten Heinrich Drake einen Weg, das Pyrmonter Orchester, das mittlerweile aus 22 Musikern des ehemaligen Linzer Bruckner Orchesters St. Florian und weiteren Mitgliedern der früheren Prager Deutschen Philharmonie bestand, zu retten. Zusammen mit dem nordrhein-westfälischen Kultusministerium und der Stadt Herford gelang es in schwierigen Verhandlungen, am 18. Juli 1950, das Orchester Städtebund Symphoniker Herford zu gründen, das am 10. 0ktober 1950 im Schützenhof Herford sein erstes Konzert unter Rolf Agops Leitung gab. Damit gab es eine Grundsicherung für das Orchester. Da Rolf Agop mittlerweile einen Auftrag zum Dirigierunterricht an der Nordwestdeutschen Musikakademie hatte, unterstützte er mit seinem Dirigentenhonorar wie zuvor in Bad Pyrmont die Orchesterkasse. Als Dozent an der Detmolder Akademie hatte Agop in Detmold eine Wohnung bekommen. Er war also für sein Engagement in Herford auf ein Fahrzeug angewiesen, das er sich mit Hilfe eines Kredites der Symphoniker zulegte. Höhepunkt seiner Tätigkeit in Herford war die Italienfahrt des Orchesters im November 1952. Die Reise vom 8. bis 17. November mit Konzerten in Prato, L’Aquila, Rom, Livorno, Brescia, Mailand, Varese, Turin und Treviso fand durchweg gute bis sehr gute Kritiken und ein begeistertes Publikum. In seinen Erinnerungen sticht das Kapitel über die „verschwundenen Pauken und Kontrabässe“ hervor. Zum letzten Konzert in Treviso musste das Orchester aus Bergamo anreisen. Für die Musiker war immer gut gesorgt, denn sie hatten seit der Abfahrt in Hannover um Mitternacht des 7.11. einen eigenen Wagen, der in Italien immer an die entsprechenden Züge angehängt wurde. Agop schreibt, dass der Wagen für fast zwei Wochen zu einer „Art Tagesheimstätte“ wurde. Lediglich das große Gepäck, also die Pauken und Kontrabässe wurden im Gepäckwagen transportiert. Und just bei der letzten Etappe ging das schief. Bei der Ankunft in Treviso fehlten die großen Instrumente. Aber wo waren sie? Telefonisch war es nicht zu erfahren. Während also ein Orchesterwart mit italienischer Unterstützung die fehlenden Instrumente sucht, wird wegen des Nichtbeginns des Konzertes das Publikum unruhig. Beschwichtigungen, Erklärungen fruchten nicht. Das Publikum fordert Musik für sein Eintrittsgeld. Auf dem Programm Beethoven: Egmont-Ouvertüre, IV. Sinfonie und das Violinkonzert mit Werner Heutling als Solist. Zwar wurde dem Publikum das Missgeschick mitgeteilt und um Geduld gebeten. Vergebens. Also musste improvisiert werden. Statt Beethoven Boccherini. Statt Violinkonzert Cellokonzert. Der erste Solocellist des Orchesters, Klaus Storck, sprang ein. Die Cellisten wurden vom Dirigenten gebeten, soweit möglich, „die tiefere Oktave mitzuspielen.“ Für den Mittelsatz funktionierte es. Leider waren danach die fehlenden Instrumente noch nicht angekommen. Große Frage, was nun? Es folgt der erste Satz mit einer „möglichst langen Solistenkadenz.“ Die Instrumente? Fehlanzeige. Aber bevor nun auch der letzte Satz erklingen musste, trafen die fehlenden Instrumente doch ein. Stürmischer Beifall für sie. Und dann wurde das angesagte Programm gegeben. Der unaufhörliche Beifall wurde mit einem Satz aus Beethovens 8. Symphonie als Zugabe beendet. Das zeigt einen Orchesterleiter mit großem Einfallsreichtum, der sein Orchester in keinem Fall im Regen stehen lassen will. Es hätte auch für den Abschluss der Italien-Tournee schlecht ausgesehen, auch wenn es unter den gegebenen Umständen zumindest nachvollziehbar gewesen wäre. Dem Dirigenten Rolf Agop sind da aber vermutlich die Pferde durchgegangen. Zwar klingt das alles sehr glaubwürdig, aber in einem Erlebnisbericht unmittelbar nach der Reise, wird die Zeit bis zum Eintreffen der vermissten Instrumente erheblich verkürzt. Danach waren die Instrumente noch während des ersten Satzes des Boccerini-Cellokonzertes eingetroffen.
So fuhren die 60 Orchestermitglieder müde und erschöpft aber glücklich zurück nach Herford.
Richard Falb – Vom Orchestervorstand zum Beauftragten
von Ulrich Schmidt
Von Juni 1918 bis Juni 1945 ist Richard Falb der Reihe nacheinander beim Stadt- und Gewandhausorchester Leipzig, der Leipziger Philharmonie und dem Leipziger Sinfonie-Orchester als Cellist beschäftigt. 1943 wechselt er zum Bruckner-Orchester St. Florian in Linz. Dort wird er Orchestervorstand. Von Linz flieht er 1945 und „landet“ in Hamburg. Sowie die Kollegen in Bad Pyrmont von seinem Aufenthaltsort erfahren, holen sie ihn ins niedersächsische Kurbad. Er schließt sich der Nordwestdeutschen Philharmonie an, wird Orchestervorstand. Und kommt so wie die Kollegen nach Herford. Schon am 21.10.1950, also drei Wochen nachdem das Orchester seinen Betrieb aufgenommen hat, wird Richard Falb zum „Beauftragten“ ernannt. Er ist berechtigt „namens der Städtebund-Symphoniker Konzertinteressenten zu besuchen und Abschlüsse zu tätigen“. Neben seinen Orchesterdiensten muss er also Werbung für das Orchester machen, die umliegenden Städte besuchen und ihnen das Programm anbieten, Konzerte verkaufen. Von Programmgestaltung ist nicht die Rede. Im August 1957 wird sein Vertrag geändert. Er wird vom Orchesterdienst befreit zugunsten seiner Tätigkeit als Beauftragter. Nunmehr gehört Programmentwürfe in Absprache mit dem jeweiligen Chefdirigenten auch zu seinem Arbeitsbereich.
Im Mai 1961, die Verrentung vor Augen, bietet Richard Falb dem Vorstand an, seine Tätigkeit als Beauftragter noch drei weitere Jahre fortzuführen. Der Vorstand lehnt ab.
Daraufhin teilt Richard Falb mit, dass er mit Datum 14.7.1961 aus den Diensten der Nordwestdeutschen Philharmonie ausscheidet. Höchstwahrscheinlich war das Jahr vor seiner Verrentung für Richard Falb das turbulenteste seiner Zeit als Beauftragter der NWD. Neben seiner eigentlichen Tätigkeit als Orchestergeschäftsführer, wenn auch anders benannt, war er zugleich der engste Betreuer des 1959 für drei Jahre engagierten Dirigenten Hermann Scherchen. Denn über Richard Falb liefen Briefverkehr, Telefondienst und sonstige enge Betreuung mit dem quirligen Orchestermann. Falbs Nachfolger Gebhard Redlin attestierte Scherchen in seinen Erinnerungen, er habe „die Puppen tanzen lassen.“ Das lässt sich aus der Lektüre der Akte, die für das eine Jahr, das Hermann Scherchen in Herford arbeitete – er beendete seinen Vertrag nach nur einem Jahr – unschwer herauslesen: Hermann Scherchen und die NWD waren nicht füreinander geschaffen. Seinem anerkannt guten Einfluss auf die Klangqualität des Orchesters standen sein Ehrgeiz und vor allem sein Unverständnis für die Aufgaben der NWD entgegen. Richard Falb stirbt am 24.12.1976.
Orchesterlabor Herford – Hermann Scherchens Blitzvisite
von Ulrich Schmidt
So hatte sich die NWD-Philharmonie vermutlich das Engagement des schon damals sehr bekannten Dirigenten Hermann Scherchen nicht vorgestellt. Die gut erhaltene Akte mit dem Schriftwechsel zwischen Scherchen und Vorstandvorsitzendem Meister einerseits und dem Beauftragten Richard Falb andererseits erzählt viel von beiderseitigen Hoffnungen, Plänen und nur teilweisen Realisierungen.
Die Ausgangslage ist aus Herforder Sicht eindeutig: Nachdem Kurt Brass als GMD nicht mehr zur Verfügung stand, musste ein Nachfolger gefunden werden. Wie die Suche bei Hermann Scherchen endete, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Aber am 9.2.1959 formuliert Hermann Scherchen erste Überlegungen seiner zukünftigen Arbeit in Herford in einem Brief an Oberstadtdirektor Meister. Die beiden hatten sich in Hamburg zum Vorgespräch getroffen. Scherchen schlägt für die Konzertsaison drei zweiwöchige Zyklen vor, während derer er jeweils eine Woche mit dem Orchester probt und in der zweiten Woche jeweils vier Konzerte mit zwei Programmen gibt. In dieser Zeit möchte er das Orchester exklusiv nur für sich haben. Das klingt nachvollziehbar, hat aber mit der Konzertrealität Herfords nicht zu tun. Scherchen hat zudem schon das „Zehnjahresfest“ der NWD im Blick, fragt nach der Möglichkeit, die Herforder Philharmoniker zu „DEM Schallplattenorchester Deutschlands zu machen“ und träumt von einer internationalen Dirigentenschule. Außerdem sieht er „sein“ Orchester schon auf dem Fest zum 5. Jahrestag seines Instituts in Gravesano. Wie aus der Antwort Meisters hervorgeht, hat er bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht am Pult dieses Orchesters gestanden. Er schlägt aber in seinen Brief gleich einen Dreijahresvertrag vor. All das will er freilich als „Beschnüffelungen“ verstehen. Gebhard Redlin urteilt in seinen Erinnerungen „forte, aber bitte leise 43 Jahre mit der Nordwestdeutschen Philharmonie“ zu Beginn des Abschnitts über ihn: „Scherchen ließ die Puppen tanzen.“
Es kommt zu einem Drei-Jahres-Vertrag. Damit beginnt für beide Seiten eine intensive Zeit. Richard Falb, seit Oktober 1950 beauftragt für das Orchester die Konzerte anzubieten und zu verkaufen, wird sein Hauptansprechpartner für alle Belange von der Organisation der Technik und der Proben über Telefonate ins In- und Ausland bis hin zu Problemen mit dem Finanzamt. Apropos Technik: Scherchen erweitert seine Technikexperimente, die er in seinem Labor in Gravesano im Tessin angefangen hatte, in Herford. Dafür verhandelt er mit Telefunken über einen Kreditvertrag über 150 000 DM für die technische Ausstattung des Konzertsaales Schützenhof. Es kam, wie es kommen musste. Die Arbeiten werden nur unzureichend und unpünktlich ausgeführt. Baulärm während der Proben, Heizungslärm während der Aufnahmen für eine Schallplattenproduktion – am Ende des ersten Vertragsjahres erfolgt die Vertragsaufhebung. Wider allen Umständen kommt es 1960 immerhin zu einer Produktion für Radio Bremen mit Werken von Max Reger. Diese Produktion wird 1991 remastered und als CD „Scherchen conducts Reger“ bei cpo veröffentlicht. In der Begleitpublikation dazu schreibt Klaus Bernbacher, damals bei Radio Bremen für E-Musik zuständig: „Scherchen war voller Pläne. Er machte in Herford interessante Versuche mit neuen Orchesteraufstellungen und bearbeitete die Aufnahmen in seinem Experimental-Studio in Gravesano. Leider konnte die Arbeit über das Jahr 1960 hinaus nicht fortgeführt werden. Der Dirigent wollte sich nicht mehr fest an ein Orchester binden.“ Dafür führte Scherchen mehrere Gründe an. Zum einen meinte er, die Möglichkeit der gründlichen Orchestererziehung, wie sie ihm vorschwebte und in § 2 seines Vertrages festgeschrieben war, nicht durchführen zu können. Grund dafür waren z.B. die Konzerte außerhalb, die z.T. mit langen Busfahrten und der Ruhezeit am Tag danach verbunden waren. Ein weiterer Grund steht in einem eingereichten Attest seines Hausarztes. Darin bestätigt Dr. Bischoff seinem Patienten im Mai 1960 „Koronarinsuffizienz“, die sich seit November 1959 den Winter über verschlechtert hat. In seinen letzten Briefen an Oberstadtdirektor Meister meint man das herauszuhören. Kommt hinzu, dass Scherchen als international gefragter Dirigent zwischen Mailand, Kopenhagen, Hamburg und London z.B. viel unterwegs war und auch die Nachtfahrten mit dem Zug von Gravesano nach Herford für ihn belastend waren. So endete eine Beziehung, von der sich beide Seiten viel versprochen hatten, relativ schnell. Noch einmal Gebhard Redlin, der sich insgesamt positiv äußert und meint, dass im übertragenen Sinn die zwei Königskinder nicht zusammenkommen konnten. Bezogen auf Scherchens Experimentierlust schreibt er: „Das ließ mich vermuten, unseren Chef habe pure Sensationslust gepackt, doch heute weiß ich, dass die Freude am Experimentieren im Vordergrund stand. Mit der Nordwestdeutschen Philharmonie meinte er ein Instrument gefunden zu haben, mit dem er endlich nach Herzenslust seiner Hauptneigung nachgehen konnte.“
Zwischen Kurkonzert und Konzertorganisation
von Ulrich Schmidt
Am 15.8.1956 beginnt Gebhard Redlin seine Arbeit 2. Oboist und für Englisch Horn bei der NWD. Eine Wohnung findet er auf dem Stiftskamp, eine ruhige Gegend, in der ihn das „Gewieher aus den Pferdeställen der britischen Garnison“ erfreute. In seinen Memoirren „forte, aber bitte leise“ beschreibt er ausführlich einen Auftritt im damaligen Konfektionshaus Zethadeem in Herford: „>>Ah, ein neuer Philharmoniker<<, meinte Herr Lübbers fast ehrfurchtsvoll, als er meine Maße für unsere mausgraue Einheitskleidung nahm. Wäre ich nicht in der Lage gewesen, sie bar zu bezahlen, hätte ich für die DM 90,-, die sie damals kostete, zwei Bürgen beibringen müssen. So ganz schien man den Herren Musikanten doch nicht zu trauen.“ Der Nettoverdienst betrug 297,60 DM im Monat.
Der Orchesteralltag überraschte ihn zunächst. Von Anfang Mai bis Ende September hatte die Nordwestdeutsche Philharmonie in der Wandelhalle oder aus einer Muschel im Park des Lippischen Staatsbades Bad Salzuflen Kurkonzerte zu geben. „Von der >Mühle im Schwarzwald< bis zur >Moldau< trug das Heilmittel unserer Melodien die Genesung Suchenden, wenn sie mit einem Glas in der Hand an uns vorüberpromenierten oder sich auf harten weißen Parkbänken beschaulicher Muße hingaben.“ Ohne diese Kurkonzerte hätte die NWD finanziell nicht überleben können.
Redlin bezeichnete diese Art der Musikausübung einerseits als großartige Schule sowohl für jeden jungen Musiker wie Dirigenten, andererseits war es natürlich jedes Mal ein Parforceritt, wenn Unbekanntes vorgelegt wurde. Gespielt wurde nämlich >prima vista<, d.h. vom Blatt, ohne Probe. Dementsprechend schwierig gestaltete sich gelegentlich der Verlauf der Konzerte. Von zwei mit ihm zeitgleich anfangenden Musikern in der 1. Violine, denen beim ersten Anblick der Notenblätter vom >Feuerzauber< aus Wagners >Walküre< angesichts der Fülle der Zweiunddreißigstel-Noten schwarz vor Augen wurde, überliefert er den Tipp für den Notfall: „Du, wenn die vor uns umblättern, blättern wir auch.“
Völlig klar, dass Gebhard Redlin – und vermutlich nicht nur ihm – die Konzertsaison im Winter sehr viel wichtiger war. Mit der Zeit gewöhnt er sich an den Orchesterbetrieb, der freilich nicht nur im Herforder Schützenhaus stattfand. Zusätzlich wurde ja auch Konzerte gegeben in den Städten, die den Vertrag zur Gründung der NWD mitunterschrieben hatten. Darüber hinaus galt es, weitere Orte, die Konzerte gekauft hatten, zu bespielen. Da kam viel Reisetätigkeit zusammen. Im Sommer wie im Winter. Doch Gebhard Redlin gewöhnt sich an diesen wechselnden Konzertbetrieb.
Im Frühjahr 1961 lässt er sich zu einer Kandidatur für einen der Orchestervorstandsposten überreden. Er wird gewählt mit einer Mehrheit, die er nicht für möglich gehalten hatte. Nun muss er nicht nur musizieren, sondern auch Belange des Orchesters gegenüber dem Vorstand vertreten. Aus seinen Erinnerungen lässt sich schließen, dass er sich mehr als einmal wie zwischen Baum und Borke fühlte. Doch es kommt noch anderes dazu. Mitte Mai 1961 wird er gebeten, gemeinsam mit Herrn Flushöh kommissarisch die Position des „Beauftragten“ zu übernehmen. Bis dahin hatte seit Gründung des Orchesters diese Stelle Richard Falb wahrgenommen, der aber jetzt in Rente gegangen war. Dieses Provisorium versah Gebhard Redlin neben seiner Konzerttätigkeit bis Dezember 1963. Doch die Freude über die Abgabe des Postens, der den Alltag des Orchesters quasi bis in die letzte Note bestimmte, währte nur kurz. Ein knappes halbes Jahr später wird Redlin wieder gebeten, dem Orchester wieder den Weg zu weisen. Und da sich auf die Ausschreibung eines Hauptgeschäftsführers, zu diesem Schritt hatte man sich angesichts der Überfülle der Aufgaben entschlossen, kein passender Kandidat bewirbt, lässt sich Gebhard Redlin „breitschlagen“.
Doch nun macht er es gründlich. In einer undatierten Auflistung seiner Tätigkeit ist zu lesen: „1.) Konzerte abzuschließen; mit dem künstlerischen Leiter Programme und Solisten beraten; Verpflichtung der Solisten 2.) Konzerttermine festlegen; Vertragsabschlüsse zu tätigen 3.) Verhandlungen mit Agenturen für Konzerte und Tourneen führen 4.) Werbung neuer Mitglieder; Schriftverkehr aus 1- 4; freie Stellen ausschreiben; Probespiele ansetzen; Anstellungsverhandlungen führen; Verträge ausstellen; Orchesterdienstplan mit dem künstlerischen Leiter ausarbeiten“. Über zu wenig Arbeit kann sich Gebhard Redlin also bis zum 29.8.1990 nicht beklagen. An diesem Tag ging er in den wohlverdienten, aber nichtsdestotrotz unruhigen Ruhestand. Er starb am 14.2.2011. Im Nachruf in der NWD-Zeitung Intermezzo wurde hervorgehoben, dass er mit vielen namhaften Dirigenten zusammengearbeitet hatte, dass er unter anderem in Bad Salzuflen Das Podium junger Solisten ins Leben gerufen und unzählige Produktionen mit dem WDR, mit Radio Bremen und mit der Tonträgerindustrie betreut hatte.
Vielseitigkeit als Voraussetzung für guten Ruf
von Ulrich Schmidt
Als sich der zwanzigjährige Werner Andreas Albert 1955 an der Heidelberger Universität zum Jura-Studium einschreiben wollte, führte ihn der Weg an der Musikhochschule vorbei. Dort wurden gerade Aufnahmeprüfungen für Nachzügler abgenommen. Spontan reihte sich Albert ein, spielte auf Klavier und Cello vor, dirigierte – und wurde zugelassen. Schon hier deutet sich an, was später sein Markenzeichen wurde: Vielseitigkeit.
Musikalische Vorkenntnisse hatte er im Posaunenchor seiner Heimatstadt Weinheim erworben. Im Verlaufe des Studiums gelang es ihm, an von Herbert von Karajan angebotenen Dirigierkursen teilzunehmen als einer der jüngsten von 33 Teilnehmern. Das war natürlich eine gute Voraussetzung für eine stattliche Karriere. Erhöht wurden diese Aussichten dadurch, dass sich Hans Rosbaud, 1963 Chefdirigent des Orchesters des Südwestdeutschen Rundfunks und Mentor der neuen Musik, ebenfalls für ihn einsetzte.
So begann Werner Andreas Albert seine Dirigentenkarriere bei der NWD-Philharmonie 1963 zunächst als zweiter Mann neben Richard Kraus. Zwar hatte er schon 1961 sein Debut als Dirigent mit dem Heidelberger Kammerorchester gegeben, aber Routine errang er jetzt durch den reichhaltigen Einsatz auf allen Ebenen in Herford. Ob Kurkonzerte in Bad Salzuflen, die zum täglichen Brot der NWD gehörten, ob Abstecher in die zahlreichen Orte, die Konzerte entweder im Abonnement gebucht oder vereinzelt gekauft hatten bis hin zu Aufnahmen mit dem WDR – Werner Andreas Albert widmete sich diesen Konzerten mit dem ihm eigenen Eifer. So erarbeitete er sich schon in jungen Jahren ein sehr großes Repertoire. Schon im ersten halben Jahr seines Engagements z.B. musste er bei einem Konzert in Bünde für „seinen“ GMD Richard Kraus einspringen, weil der Chef – international ein viel beschäftigter Dirigent – wegen Nebels erst zwei Stunden später als vorgesehen in Düsseldorf landete. Spontan übernahm Albert beim Konzert in Bünde die „Kleine Sinfonie“ G-Dur von Hans Pfitzner. Sowie Kraus jedoch angekommen war, übernahm er den Stab. Am ersten Adventssonntag 1963 dirigierte Albert in Herfords Marienkirche auf dem Stiftberg mit dem Chor der Nordwestdeutschen Philharmonie und der Herforder Singgemeinschaft Concordia vom Bachschen Weihnachtsoratorium die ersten drei Kantaten. Im Frühjahr 1965 über nahm er als Nachfolger Rolf Agops die Leitung des Städtischen Musikvereins Paderborn. Zusammen mit dem Herforder Chor ergaben sich für Albert nun mehr Möglichkeiten. Immer wieder dirigierte er Konzerte, die Aufsehen erregten. Eines der spektakulärsten dürfte ein Konzert im Schützenhof gewesen sein, bei dem er zu Beethovens „Wellingtons Sieg bei der Schlacht von Vittoria“ die Military Band der englischen Garnison in Herford aufmarschieren ließ. Kurz danach sprach er den damals führenden deutschen Jazzmusiker Klaus Doldinger an, gemeinsam etwas für Herford zu entwickeln. Es entstand das „JazzConcertino für Jazz-Quartett und Orchester“, uraufgeführt im Schützenhof, mittlerweile wieder als CD zu erhalten. Da Richard Kraus als GMD seinen Vertrag im Frühjahr 1969 gekündigt hatte, stand die Neuwahl eines Chefdirigenten an. Nun spielte auf einmal die Studienzeit bei Karajan eine Rolle, denn die heimischen Zeitungen hatte Albert aufgrund seiner Angaben zum „Karajan-Schüler“ ernannt. Nachfragen beim Leiter des Internationalen Dirigenten Praktikums Herbert von Karajan, Professor Ahlendorf, waren unergiebig. Man antwortete, dass diese Frage nur das Büro Karajan in Wien beantworten könne. Darauf wurde verzichtet, Werner Andreas Albert wurde im August 1969 der neue Chefdirigent der NWD-Philharmonie. Zunächst, wie üblich, für zwei Jahre. Es änderte sich dadurch nicht viel. Denn der Konzertbetrieb lief weiter wie bisher, Chefdirigent und Gastdirigenten wechselten sich ab, Konzerte wurden gegeben, Aufnahmen mit dem WDR fanden statt. Und doch änderte sich die Stimmung. In Herford drehte sie sich gegen Werner Andreas Albert. Mit Vertragsende verließ er Herford. Doch er machte international Karriere. Nach einem Intermezzo in Portugal beim Gulbenkian Orchester wurde er GMD in Nürnberg. Später feierte er große Erfolge in Australien.
Karajan-Schüler hin oder her, internationale Karriere hin oder her – der WDR hatte Werner Andreas Albert als vielseitigen Dirigenten erkannt, der solide und brauchbare Aufnahmen für sein Archiv leiten konnte. Dementsprechend wurde er immer wieder eingeladen zu Rundfunkaufnahmen, zu denen er auch aus Australien anreiste. Hin und wieder sind auch heute noch in der WDR-Sendung „Klassik Forum“ Aufnahmen mit Werner Andreas Albert zu hören. Ein Blick in seine Discographie bestätigt die Vielseitigkeit. So gab es 1994 bei dem Musiklabel cpo eine Kassette mit 6 CDs von Paul Hindemiths Orchesterwerken, 2 CDs mit seinen Klavierkonzerten. Von Hans Pfitzner gibt es Einspielungen mit den Bamberger Symphonikern. Aber besonderes Aufsehen erregte Werner Andreas Albert mit der Einspielung der Orchesterwerke von Erich Wolfgang Korngold. Diese Arbeit wurde mit dem Mensa Award der amerikanischen Mensa-Stiftung prämiiert.
Der Kandidat des Orchesters
von Ulrich Schmidt
Da staunte die Presse: „NWD-Philharmonie holt sich einen 32jährigen Intendanten“. Es gab zweierlei zu bestaunen: die Philharmonie bekommt einen „richtigen Intendanten“ und der ist erst 32 Jahre alt. Holger Kruppe hieß der Mensch, der vermutlich – siehe Überschrift – als doch sehr jung für einen solchen Posten eingeschätzt wurde. Vermutlich hätte Holger Kruppes Vorgänger Gebhard Redlin sich über eine Entlastung oder Aufgabenteilung, wie sie jetzt bei der NWD-Philharmonie vorgenommen wurde – nämlich hie der Intendant, da der künstlerische Betriebsdirektor – auch gefreut. Mittlerweile hatte sich nämlich auf dem Kultursektor allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine professionelle Geschäftsführung sinnvoll ist. Und da war Holger Kruppe genau der richtige Mann. Er hatte nicht nur Musik studiert – Gitarre – sondern war nach dem Examen zunächst einmal Leiter seiner eigenen Musikschule sowie Dozent für Gitarre an der Universität Wuppertal. Nach der Leitung einer Musikschule in Oldenburg übernahm er 1987 die Leitung des renommierten Folkwang-Kammerorchesters. Beste Voraussetzungen also für die Übernahme der Intendanz in Herford. Zumal er auch noch ein Quintett mit vier Streichern und mit ihm als Gitarristen leitete, mit dem er Konzertreisen und Schallplattenaufnahmen (u.a. Boccherinis Werke für Gitarre) durchführte. Diese Voraussetzungen machten ihn zum Kandidaten des Orchesters, wie Stadtdirektor Ernst-Otto Althaus, damals Vorsitzender des Vereins, sagte. Zusammen mit der Umstrukturierung der Leitungsebene erhielt die Philharmonie zur Erfüllung des Orchestertarifvertrages zusätzlich Geld für neue Orchestermusikerstellen. Ideale Bedingungen also für Holger Kruppe: Verantwortliche Leitung insgesamt mit einem vergrößerten Orchester. Und was mit dem größer gewordenen Orchester auch notwendig sein würde: Verstärkte Bemühung um Sponsoren. Aus eigener Erfahrung wusste Holger Kruppe: Sponsorenmittel können und dürfen nur für Sonderaktionen verwendet werden. Für den laufenden Betrieb sind sie tabu.
Da passte es, dass 2002 in Herford die GemeinschaftsStiftung Nordwestdeutsche Philharmonie gegründet wurde mit dem einzigen Ziel der Unterstützung eben der Philharmonie. Schon klar, eine Stiftung kann nicht so große Summen wie ein Sponsor verteilen, dafür ist sie aber von der Konjunktur und den Vorlieben der Sponsoren unabhängig. Und sie kann natürlich ihrerseits nicht nur zu Zustiftungen ermutigen, sondern in Hintergrundgesprächen mögliche Sponsoren ermuntern. Aber Holger Kruppe wusste natürlich, dass er vor allem von sich aus aktiv werden musste.
Die vorhandenen Programme überzeugten ihn, aber natürlich fand er hie und da Möglichkeiten zur Änderung. Und die konnte er mit den Chefdirigenten Alun Francis, Michail Jurowski und Toshiyuki Kamioka durchführen. Ein besonderes Anliegen war ihm die Neuorganisation der Kinder- und Jugendkonzerte. Denn natürlich muss sich eine Kulturinstitution wie ein Symphonieorchester um den „Nachwuchs“ im Publikum bemühen. Der Erfolg seiner Bemühungen gab ihm recht: Jenseits der bis zu 8000 Schüler, die so in Musik und Konzert eingeführt wurden, natürlich mit Unterstützung der zuständigen Lehrer, die ihrerseits vom Orchester Material erhielten für die Vorbereitung, war die Nachfrage größer als das Angebot.
Höhepunkt von Holger Kruppes Intendanz war im November 1994, die Uraufführung der Komposition „Jüdisches Requiem“ des russischen Komponisten Michail Broner, ein Auftragswerk der NWD-Philharmonie. Veranlasst hatte diese Arbeit der Generalmusikdirektor und Chefdirigent Michail Jurowski, der gemeinsam mit dem Komponisten noch in der ehemaligen Sowjetunion darüber nachdachte, „der großen jüdischen Kultur in Europa ein Denkmal zu schaffen.“ Der Komponist begann 1992 mit der Arbeit, die 1994 zum 56. Jahrestag der Reichspogromnacht im Rahmen der Abonnementskonzerte in OWL uraufgeführt wurde. Und am 9. November 1994 im Berliner Konzerthaus – ehedem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt – wiederholt wurde. Mit viel Erfolg, denn Holger Kruppe berichtete, dass das Orchester für das folgende Jahr erneut eingeladen worden war.
Ein Riesenrepertoire an Sinfonien, Opern und Balletten
von Ulrich Schmidt
Als Michail Jurowski 1999 nach Deutschland kam, war er nur Fachleuten ein Begriff, denn er war seit 1978 ständiger Gastdirigent an der Komischen Oper Berlin. Er kam am ersten Weihnachtstag 1945 in einem musikalischen Haushalt in Moskau zur Welt. Der Vater Wladimir war Komponist, Dmitri Schostakowitsch war ständiger Gast, mit ihm spielte Michail Jurowski häufig vierhändig Klavier. Aber die jüdische Herkunft erschwerte ihm eine Karriere in der Sowjetunion. Zwar wurde er Assistent bei Gennadi Roschdestwenski, er wurde auch Dirigent am Stanislawski-Nemirowitsch-Dantschenko-Theater, aber höhere Weihen waren ihm als Juden nicht gestattet: „Chefdirigent wirst Du nie, das werden wir Russen; sei dankbar, dass Du überhaupt am Bolschoi-Theater auftreten darfst“, hatte ihm 1988 der stellvertretende sowjetische Kulturminister erklärt.
Als ihm 1989 ein Engagement an der Dresdner Semper-Oper angeboten wurde, ergriff er die Gelegenheit und übersiedelte ein Jahr später mit seiner Familie an die Elbe. Die NWD-Philharmonie suchte zu diesem Zeitpunkt einen neuen GMD. Von 1991 – 1998 übernahm Michail Jurowski diese Position. Für das Orchester begann eine intensive Phase der Einstudierung der Werke Schostakowitschs zusätzlich zum Schwerpunkt „Klassische Moderne“. Mit der CD-Einspielung des von Krzystof Meyer vervollständigten Opernfragments „Die Spieler“ von Schostakowitsch mit prominenten russischen Solisten des Bolschoi-Theaters in der Originalsprache zeigte das Orchester einmal mehr seine Vielseitigkeit.
Höhepunkt seines Engagements in Herford ist die Uraufführung der Arbeit des Komponisten Michail Broner: „Jüdisches Requiem“, eine Auftragsarbeit der NWD-Philharmonie. Erste Gedanken dazu hatten Michail Jurowski und der Komponist noch in der Sowjetunion angestellt. Es ging ihnen damals darum, dass sie die Geschichte des jüdischen Volkes geprägt sahen von Krieg, Krieg und nochmals Krieg. Darüber ist die Kultur „fast völlig vergessen worden, und so träumten wir davon, der großen jüdischen Kultur ein Denkmal zu schaffen.“ Ergebnis ist dies Requiem, das auf dem Gedicht „In der Stadt des Schlachtens“ von Chaim Nachman Bjalik basiert. In diesem Gedicht wird über Pogrome der Zarenzeit in Russland geredet. Jurowski attestiert dem Dichter, er habe alles vorausgesehen, „was später im Nationalsozialismus passierte.“ Der Komponist aber kontrastierte die jiddischen Verse Bjaliks mit Psalmen in hebräischer Sprache, um auf den Reichtum der jüdischen Kultur zu verweisen. Das Requiem klingt aus mit einem Auszug aus Anne Franks Tagebuch. Das Werk wurde am 2. November 1994 in Paderborn im Rahmen der Abonnementskonzerte uraufgeführt. Danach wurde es in Minden, Bad Salzuflen und Herford ebenfalls gegeben. Höhepunkt dieser Konzertserie war die Aufführung des Requiems im Berliner Konzerthaus am 9. November, also am 56. Jahrestag der Reichspogromnacht.
Neben seiner Tätigkeit für die NWD-Philharmonie war Michail Jurowski auch Chefdirigent der Oper Leipzig; später Chefdirigent des WDR Rundfunkorchesters Köln und Erster Gastdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Im Herbst 1996 gab es viel Aufregung um den Dirigenten. Während eines Dirigats der Oper „Boris Gudonow“ in der Deutschen Oper Berlin sackt Michail Jurowski plötzlich zusammen und stürzt vom Podium in den Orchestergraben. Die Theaterärztin war unglaublich schnell zur Stelle und leistete erste Hilfe. Doch plötzlich hörte sein Herz auf zu schlagen. Sie führte Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung durch. Als nach 23 Minuten endlich der Notarztwagen zur Stelle war, wurde eine Reanimation mit Elektroschocks erfolgreich durchgeführt. Im Herzzentrum der Charité wurden ihm vier Bypässe gelegt. Im Februar 1997 gesteht Michail Jurowski: „Der 24. November 1996 ist der Tag meiner zweiten Geburt.“ Er erzählt von Nahtoderfahrung und dass er sein „ganzes Riesenrepertoire an Sinfonien, Oper und Balletten im Kopf Note für Note“ durchging. Am 14. Februar 1997 gab er sein erstes Konzert nach der Genesung in Frankfurt. Auch in Herford war man erleichtert und froh. 1998 beendete Michail Jurowski sein Engagement in Herford. Die Anfragen nationaler und internationaler Gastdirigate waren sehr zahlreich geworden. Eine verantwortungsvolle Chefposition hätte sich nicht mehr realisieren lassen. Am 19. März 2022 stirbt Michail Jurowski in Berlin.
Nur ein kleiner Korrepetitor – Toshiyuki Kamioka
von Ulrich Schmidt
Geboren 1960 in Tokio, erhielt Toshiyuki Kamioka in seiner Heimatstadt eine Ausbildung in Dirigieren und als Pianist. Mit einem Stipendium von Rotary International kam er nach Hamburg, wo er seine Ausbildung an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater fortsetzte. Ein erstes Engagement erhielt am Kieler Opernhaus als Solorepetitor. Danach wurde er dort Kapellmeister. 2006 erinnerte er sich demütig an seine Ankunft in Kiel: „Ich war schließlich nur ein kleiner Korrepetitor in Kiel, als ich das erste Mal vor den Musikerinnen und Musikern stand.“ Im Verlauf einer klassischen Karriere folgte ein Engagement als erster Kapellmeister an das Aalto-Theater in Essen. Von dort ging er 1996 ans Staatstheater Wiesbaden, wo er zum Generalmusikdirektor ernannt wurde. 2004 übernahm er den gleichen Posten am Wuppertaler Theater. Mittlerweile war er jedoch schon seit 1998 GMD bei der NWD-Philharmonie. In einem Interview zur ersten Vertragsverlängerung 2001 betonte Kamioka: „Das Orchester ist sehr offen, auch wenn es um neue und auf den ersten Blick vielleicht etwas gewöhnungsbedürftige Werke geht.“ In Herford war man natürlich glücklich darüber, dass sich die Wege des Generalmusikdirektors zwischen seinen beiden Orchestern verkürzten. Und egal ob Wiesbaden oder Wuppertal, die Beschäftigung mit der NWD-Philharmonie war ihm immer ein wichtiger Kontrapunkt zur Theaterarbeit. Ganz erstaunlich, dass das Orchester 2003 einer weiteren Vertragsverlängerung mit Freuden zustimmte, weil die Arbeit immer in einer höchst konzentrierten Atmosphäre verlief und die Konzerte mit ihm nachweislich gut besucht waren. Intendant Andreas Kuntze stimmte dem im gleichen Interview zu und beschreibt die mittlerweile zwölfjährige Arbeit Kamiokas mit dem Orchester, davon acht Jahre als Chefdirigent, als Phänomen: „Es gibt derzeit keine Anzeichen für einen Verschleiß: Die Chemie stimmt nach wie vor.“ Dennoch gab Kamioka 2006 seinen Abschied bekannt. Dem Dank für die gute Stimmung mit und in dem Orchester fügte er im Abschiedsgruß hinzu: „Das Orchester hat enorm hohe Ausdruckskraft bekommen. Es ist dynamischer, präziser und virtuoser geworden.“ Seine Arbeit in Wuppertal beendete er 2014. 2016 übernahm er die Leitung des Neuen Philharmonischen Orchesters Japan sowie bis 2024 die Leitung des Copenhagen Philharmonic Orchestra.
„Da geht noch was“ – Die NWD-Philharmonie zwischen Alltag und Hochglanz
von Ulrich Schmidt
Im Jahr 2000 übernahm Andreas Kuntze die Intendanz der NWD-Philharmonie. Er hatte Cello in Düsseldorf, Mannheim und Berlin studiert. Zuletzt bei Eberhard Finke, seinerzeit Solocellist bei den Berliner Philharmonikern. Doch damit war Andreas Kuntze noch nicht am Ende seiner Träume. Er studierte in Hamburg zusätzlich Kulturmanagement, weil ihm während seines Studiums immer wieder die Ineffizienz im Kulturbetrieb auffiel. Da müsste sich doch etwas bewegen lassen, dachte er sich. Und so begann er nach dem Examen zunächst an kleineren Stationen wie z.B. Kiel oder Stuttgart als Orchestermanager. In Essen beim Folkwang Kammerorchester war er übrigens das erste Mal Nachfolger von Holger Kruppe. Hier in Herford wurde er es zum zweiten Mal. Aber damit wird es wohl gut sein, denn seither – also seit 2000, siehe oben – leitet Andreas Kuntze die NWD-Philharmonie. Nachdem er ein Jahr den Konzertbetrieb in Herford und Umgebung kennengelernt und analysiert hatte, begann er mit der Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit. Es erscheint seit Herbst 2001 „Intermezzo“ – die Quartalszeitung zur Information der Konzertbesucher und Abonnenten.
„Was macht einen Konzertbesuch eigentlich so unvergleichbar?“ fragt Intendant Andreas Kuntze in Intermezzo vom Herbst 2004. In der Antwort bietet er zwei Möglichkeiten an. Da ist zum einen unbestreitbar der „unmittelbare Musikgenuss“. Zum andern sieht er die Unvergleichbarkeit aber auch im „Erleben einer besonderen Beziehung, die geprägt ist von einem wechselseitigen Geben und Nehmen: hier der Klangkörper, der sein Bestes gibt und dafür mit Applaus belohnt wird, dort das Publikum, das sich am Orchesterspiel erfreut und dies mit Beifall honoriert.“
Mit diesen wenigen Worten beschreibt Andreas Kuntze, was ihn bewegt und lenkt in der Führung der NWD-Philharmonie. Hie das Orchester – da das Publikum. Nicht dass sein Vorgänger Holger Kruppe das nicht auch getan hätte. Aber jeder neue Intendant hat einen neuen, anderen Schwerpunkt, mit dem er sich in seiner Vertragslaufzeit beschäftigen will und der ja auch Hauptaspekt seiner Bewerbung war. Für Andreas Kuntze war dies, die Wechselbeziehung zwischen Orchester und Publikum auch dadurch zu betonen, dass die NWD-Philharmonie Konzerttourneen ins Ausland quasi in ihre DNA aufnimmt. Das zeigt der Konzertkalender 2004/2005 in besonderem Maß: Im Februar 2005 absolviert das Orchester seine erste große Tournee durch die USA. Das ist sehr strapaziös, weil die Verpflichtungen daheim dadurch nicht weniger werden. Andreas Kuntzes Überlegung: Auslandsverpflichtungen mehren das Renommee des Orchesters nicht nur im Ausland, sondern auch und vor allem im Inland. Also auch in Herford und Umgebung. Ein Resultat dieser Bemühungen um Konzerte im Ausland: Auftritte der NWD-Philharmonie im Concertgebouw Amsterdam gehören mittlerweile fast zu den festen Abstechern. Und was das Renommee im Ausland betrifft: In der Konzertsaison 2011/2012 gab es erneut eine USA-Tournee. Diesmal wurde sie Konzertkalender nur noch im Kalendarium aufgeführt, in der Begrüßung wurde sie nicht erwähnt. So viel Understatement muss sein. Und bis dahin hatte das Orchester auch noch Konzertreisen durch Japan und Spanien z.B. absolviert.
Natürlich ist das nicht der Alltag. Das weiß Andreas Kuntze auch. Der Alltag ist vor der Haustür. Will sagen: das Publikum, dass die Konzerte abonniert, oder z.B. die Schüler, die in besonderen Konzerten an Musik in vielfältiger Form herangeführt werden und deren begeisterte Dankschreiben vom Erfolg der Bemühungen und das junge Konzertpublikum zeugen. Kommen hinzu die Städte, die ein Konzert einkaufen, unter Umständen mit einem Programm eigener Vorstellung. Und ob Wilhelmshaven oder Bad Godesberg – der Auftrag wird erledigt. Mit Freuden und zur Zufriedenheit der Auftraggeber.
Aber das sind nur die Dinge, die das Orchester nach außen repräsentieren. Im Innern gibt es auch vieles zu regeln, was mit den Konzerten in unmittelbarem Zusammenhang steht. Für die Konzerte müssen Proben angesetzt werden. Es müssen Solistinnen und Solisten engagiert werden, externe Dirigenten – nicht jedes Konzert kann der Chefdirigent leiten. Der überhaupt nicht einfach zu verstehende bzw. anzuwendende Tarifvertrag für die Orchestermitglieder erfordert nahezu täglich Diskussionen. Auch hier ist der Intendant gefordert, der sich auf ein gut eingespieltes Team verlassen kann. Aber entscheiden muss letzten Endes er. Nimmt man ein gut gefülltes Auftragsbuch als Erfolg der täglichen Arbeit, dann lässt sich sagen: Intendant Andreas Kuntze kann einen vollen Konzertkalender bis 2027 vorweisen. Das spricht für sich.