Reisen in die Nacht
von Ulrich Schmidt
Den Weg für die erste Tournee der NWD Herford nach Italien ebnete 1952 die Konzertdirektion Heinz Bonatz in Krefeld in Verbindung mit der agenzia concertistico di milano von Professor Dr. Luigi La Pagna in Mailand. Doch vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt, in diesem Fall musste zur endgültigen Bestätigung dieser Tournee der italienischen Agentur eine Bandaufnahme mit Tonproben des Orchesters übersandt werden. Diese Aufnahme wurde Ende August abgeschickt.
Am 7. November bestiegen die Herforder Musiker in Hannover um Mitternacht den Sonderwagen, der dem Nachtzug über München und Bozen nach Rom angehängt war. In diesem Sonderwagen reisten die Musiker von Ort zu Ort bis zurück in die Heimat. Eine Herforder Tageszeitung hatte mit drei Orchestermitgliedern vereinbart, dass sie Aufzeichnungen und Erinnerungen von dieser Fahrt schicken. Aus diesen Aufzeichnungen wird hier zitiert.
Bei dieser Orchestertournee waren beide Dirigenten, Heinz Schlüter und Rolf Agop, tätig. Am 8.11. bestritt Heinz Schlüter in Prato das erste Konzert der Nordwestdeutschen Philharmonie auf italienischem Boden. Auf dem Programm standen Beethoven (Egmont-Ouvertüre, V. Symphonie, Violinkonzert mit Werner Heutling) und die 6. Symphonie von Tschaikowsky. Ähnlich voll waren auch die anderen Konzerte. Immer wieder riefen die begeisterten Zuhörerinnen und Zuhörer: „Bui! Bui!“ Dieser zunächst unbekannte Begeisterungsruf, der gleichzeitig die Aufforderung zur Zugabe enthielt, klang in deutschen Ohren eher merkwürdig. Aber die Aufklärung folgte schnell. Und das Orchester geizte nicht mit Zugaben. Die ersten Erkenntnisse über italienisches Leben und Essen: der Kaffee war einfach nur bitter. Den gab es zu allen Tageszeiten, zum Frühstück z.B. mit einem trocknen Brötchen. Und abends immer Spaghetti, Braten und kühlen Wein. Und so heißt es in einem Bericht: „Eine sonderbare Küche für den deutschen Magen.“
Die Reise mit strapaziös zu beschreiben, klingt fast euphemistisch. Die Konzerte begannen in der Regel um 21:00 Uhr. Mit den obligaten Zugaben kamen die Musiker selten vor 1 Uhr nachts ins Bett. Geweckt wurde gern um 5:00 oder früher, denn die Wege mit dem Zug quer durch Italien waren lang und zeitraubend. Und vom Bahnhof ging es erstmal direkt in den Konzertsaal zur Probe. Danach war dann eher wenig Zeit zur Erholung. Abendessen und ab in den Frack zum Konzert war der übliche Vorgang. Und so wird dann z.B. über das Konzert in Brescia selbstkritisch vermerkt: „Überanstrengung macht sich bemerkbar.“ Unwillkürlich macht sich auf der Fahrt von Prato nach L’Aquila das Kriegsgeschehen aus unrühmlicher Vergangenheit bemerkbar. Der Gran Sasso wird aus dem fahrenden Zuge bewundert. Das imposante Massiv erweckt Bewunderung, auch weil dort deutsche Fallschirmjäger ein Flugzeug zur Landung gezwungen hatten. Der Reflex dazu ist in einer Kritik des Konzertes in L’Aquila nachzulesen: „Trotz der noch frischen Erinnerungen an die Gewaltherrschaft, die die Deutschen bei uns geführt haben, hat das Konzert von Sonntagabend es fertiggebracht, uns versöhnlicher zu stimmen.“ Die Deutschen waren von vornherein also nicht unbedingt gern gesehen. Doch das besserte sich von Aufführungsort zu Aufführungsort. In manchen Städten wurde mit großen Plakaten auf das Gastspiel der Deutschen hingewiesen. In den meisten Städten, in den sie gastierten, haben sie die Konzertsaison eröffnet. In Varese mutierte die Konzertsaisoneröffnung zu einem besonderen Spiel: es fehlten die Kontrabässe und Pauken. Angesichts der Tatsache, dass Haydns Symphonie mit dem Paukenschlag auf dem Programm stand, besonders delikat. Aber da war erstmal nichts zu machen. Die Versuche, das Publikum zu besänftigen und um Geduld zu bitten, endeten bald. Irgendwann hob Chefdirigent Rolf Agop seinen Stab und es erklang als Notbehelf der zweite Satz aus Boccherinis Cellokonzert mit dem Solocellisten Klaus Storck. Etwa in der Hälfte dieses Satzes trafen die ersehnten Instrumente ein und das Konzert konnte mit einer Stunde Verspätung doch noch ordnungsgemäß angefangen werden. So lernten die deutschen Musiker improvisieren. Und wurden begeistert gefeiert dafür. Die Kehrseite: die Musiker kamen noch später ins Bett, mussten aber trotzdem um 6:30 Uhr aufstehen, um den Zug nach Turin zu erreichen. Kurzum, die erste Italienreise der NWD Herford war zwar sehr anstrengend, aber auch erfolgreich. In einem Geburtstagsbrief an seinen Chef, Oberstadtdirektor Ernst Meister zu, hob Rolf Agob noch einmal die Leistung des Orchesters während der Italientournee hervor: „Das Orchester hat sich trotz der fast übermenschlichen Strapazen durch alle Konzerte, die ich beurteilen kann – und das waren 8 von 9, die ich selber dirigieren musste – wirklich ausgezeichnet gehalten und war zündender Künder deutscher Kunst im Ausland, und wurde teilweise als >eines der besten deutschen Orchester< gefeiert.“ Erste Gespräche über eine zweite Konzerttour durch Italien wurden schon ganz früh nach der Rückkehr nach Herford geführt. Und sie mündeten nach vielerlei Hin und Her und Abstimmungsproblemen mit den Terminen in der nächsten Italien-Tournee im Frühjahr 1954.
Diese Tournee, die auch um Mitternacht in Hannover begann, war genauso erfolgreich wie die vorige. Gewünscht waren unter der Leitung des Generalmusikdirektors Wilhelm Schüchter diesmal in L’Aquila, Livorno, Catania, Palermo, Sassari und Bari nur Beethoven inklusive der 9. Sinfonie. Also musste der Chor der Nordwestdeutschen Musikakademie, die Detmolder Singakademie, mitreisen, dessen Mitglieder, das sei hier hervorgehoben, die Fahrt zum Teil aus eigenen Mitteln bezahlten. In Livorno, im Dom zu Monreale und in Bari wurde die 9. Sinfonie unter dem Dirigat des Detmolder Professors Thomas zu einem großen Erfolg. Im Herforder Anzeiger schildert ein Mitglied der Singakademie seinen Eindruck vom Konzert in Monreale: „Es war eine einzigartige Atmosphäre in der schönsten und kostbarsten Kathedrale der Welt.“ Ein weiterer Höhepunkt dieser Reise war die Teilnahme am „Maggio Barese“ vom 2. bis 6. Mai 1954. Außer in bunter Reihenfolge aller Beethoven-Sinfonien gab es noch ein populäres Konzert mit Werken von Wagner, Strauss und Mozart. Die italienischen Kritiken waren durchwegs des Lobes voll. Im Rechenschaftsbericht über die Tournee des Orchesters heißt es nüchtern: „Die Begeisterung fand auch ihren Ausdruck in einer Einladung des Dirigenten nach dem vorletzten Konzert. Hier wurde Herr GMD Schüchter in Reden gefeiert und ihm eine silberne, kunstvoll gearbeitete Barke mit den Worten überreicht, dieses Geschenk möge die recht baldige Wiederkehr des Orchesters mit Herrn Schüchter bedeuten.“ Damit nicht genug: Nach dem letzten Konzert erschien eine Delegation von Studenten und setzte GMD Schüchter einen Doktorhut der Universität Bari auf, „eine Ehre, die nur selten jemanden zuteil wird“, wie dieser Rechenschaftsbericht endet.